Die Villen am Platz der Einheit waren noch Ruinen, als ich Mitte der siebziger Jahre nach Dresden kam. Manchmal gingen wir nachts von den im Souterrain im Hinterhof liegenden Weinstuben auf die andere Straßenseite zum Neustädter Bahnhof, es roch schwer nach Autoabgasen und Rauch von Braunkohlenbriketts. In der Halle suchten wir auf dem Fahrplan die Abfahrtzeiten des aus Moskau kommenden Zuges nach Paris und spielten mit dem Gedanken, uns in den Zug hineinzuschmuggeln, alle Grenzen hinter uns zu lassen und am Morgen triumphierend in die Gare de l‘Est einzufahren. Auf dem Heimweg zeigte mir ein Freund im Vorübergehen ein Gebäude unmittelbar am menschenleeren Platz und meinte, dort hätte der Onkel von Kästner gewohnt, wo der Dichter als Kind häufig zu Besuch gewesen war. Von seiner Wohnung auf der Königsbrücker, die jetzt Otto-Buchwitz-Straße hieß, bis hierher brauchte er zehn Minuten: Erich Kästner, erst vor kurzem gestorben, im Westen, genauer in München. Die kriegszerstörte, rußgeschwärzte Villa, umgeben von gegen die Wände wucherndem Gestrüpp sollte wie die gesamte Neustadt abgerissen, um durch Plattenbauten ersetzt zu werden. Diese Barbarei wurde glücklicherweise durch die politische Wende verhindert. Heute kann ich nach Paris fahren, wenn mir danach ist, und in jene restaurierte Villa gehen, die sinnigerweise den Namen Erich Kästner Haus für Literatur trägt. Von den vielen literarischen Reihen und Lesungen, die ich miterlebt oder selbst mitinitiiert habe, ist mir die Lange Nacht der Autoren 2001 unvergesslich geblieben. Es war die Nacht, von der man genau wusste, dass sie zum letzten Tag des Sommers gehörte. Wir zogen in den großzügigen Garten, vor vielleicht fünfzig Gästen übernahm Wolfgang Hilbig den Schluss der Lesung. Jedem der acht Autoren standen ungefähr fünfzehn Minuten zur Verfügung, Hilbig, der Monolith, las in seinem breiten Sächsisch in die helle Dunkelheit der Nacht mit dem lauen Sommerwind hinein, las unerbittlich gegen den Straßenlärm an, der zu der Welt gehörte, die draußen blieb. Niemand sah auf die Uhr, niemand verlangte, dass Hilbig zum Ende kommen sollte. Es gab eine unausgesprochene Übereinkunft: Der große Hilbig kann so lange lesen, wie er will, für ihn wiederum schien selbstverständlich, diese Sommernacht mit seinen Gedichten zu füllen. Es ist, als sei er nie zu Ende gekommen, seine Stimme hab ich immer noch im Ohr.
Dank dem Haus für diese Lesung! Dank für die zahllosen Veranstaltungen, die die Kultur der Stadt nicht unwesentlich bereichert haben, verbunden mit dem Gruß zum Hundertzweiundzwanzigsten des Meisters!